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Freitag, 28. September 2012
chapter 12 - 13. Februar 2005
Liebe Feena,

ich bin mir nicht sicher, ob ich die richtigen Worte finde, um dir vor Augen zu führen, was mir widerfahren ist.

Die Baustelle in meinem Kopf ist noch immer ein ständiger Begleiter. Stille existiert nicht mehr für mich.

Ich bin ständig auf der Suche nach neuen angenehmen Geräuschquellen, die das Donnern in meinem Ohr vergessen machen.

Ich kann nicht mehr lesen. Meine kleine Alltagsoase, ein Buch in meiner Hand, musste ich aufgeben. Und finde keinen Ersatz. Es zerfleischt mich, aber ich kann nicht vor mir selbst davonlaufen.

Ich habe eine Ärztin aufgesucht, was mein Vertrauen in selbige und in den Menschen an sich nachhaltig beschädigt hat.

Diese Frau war wirklich das letzte, was ich in meiner jetzigen Situation gebraucht habe.

Es ist schon unerträglich genug, wenn die Praxisgebühr das Mittagessen für deine Familie auf dem Gewissen hat. Du überlegst hin und her, muss der Gang zum Arzt wirklich sein?

Die Diagnose Tinnitus habe ich schon erwartet, die folgende Infusionstherapie entpuppte sich als Fahrt auf einer zu waghalsigen Achterbahn. Jedes Mal aufs Neue.

Und an meiner Hand du, ein dreijähriges Mädchen, das ich niemandem vorübergehend anvertrauen kann und vor dem ich stets die Fassung bewahren will.

Eines Tages wollte es dann nicht mehr gelingen.
Die Infusionstherapie hatte mir so zugesetzt, daß mein Kreislauf an einer ungeeigneten Stelle auf der Achterbahn ausstieg.

Die Arzthelferinnen hievten mich auf eine Liege und verabreichten mir Kreislauftropfen. Schwammig nahm ich die mitleidigen Blicke der anderen Patienten wahr, die in dem Behandlungssraum ihr Schicksal mit mir teilten. Alle schauten zu mir, während ich mit meinem Bewusstsein einen ungleichen Kampf austrug.

Mein ganzer Fokus lag auf dir, die verstört die plötzliche Hektik um ihre Mama wahrnahm.

Jetzt galt es, dich nicht aus den Augen zu verlieren. Nicht, daß du in dem ganzen Gewusel hier noch verlorengingst. Niemand schaute auf dich.

Gern hätte ich den Umstehenden zugerufen, kümmert euch um mein Kind. Aber mein Mund wollte mir nicht gehorchen. Ich kämpfte immer noch mit meinem Bewusstsein einen schier endlosen Kampf.

Die Kreislauftropfen zeigten erste Wirkung. War der Blutdruck vorher zu niedrig, schnellte er jetzt in die Höhe. Oder war es umgekehrt?

Wo bist du? Ich griff blind nach deiner Hand.

Irgendwo am Ende eines langen schwarzen Tunnels tauchte unvermittelt das Gesicht der Ärztin auf.

Worte wie Luftgeschosse prasselten auf mich nieder.

Ich hatte ihr zu Beginn der Behandlung einen Blick in mein Herz gewährt. Sie erkundigte sich, welcher Stress meiner Meinung nach den Tinnitus ausgelöst haben könnte.

Ich berichtete ihr vom Verlassen der Heimat, meinem Heimweh, von der Insolvenz des neuen Arbeitgebers, von den finanziellen Sorgen, die uns nun belasteten.

Und nun stand diese Frau am Ende der Liege und verwandte all ihr Wissen gegen mich.

Warum ich denn überhaupt Heimweh hätte? Was das denn für eine Familie sei? Und Freunde könnte ich doch wahrlich nicht haben? Wo wären die denn jetzt alle? Sie wären doch jetzt hier, bei mir, wenn es sie wirklich gäbe.

Ihr Ton war nicht einfühlsam. Nicht tröstend. Er war herablassend. Sie brüllte quer durch das Behandlungszimmer und brüstete sich gleichzeitig mit ihrer einzigartigen Familie und ihrer wahrhaftigen Freundin.

Ich wollte mich wehren, aber ich fuhr immer noch Achterbahn, das Ohr hämmerte lauter als je zuvor und die Worte fanden einfach nicht den Weg aus meinem Mund.

Ich blickte hilflos zur Seite und versicherte mich, daß du noch an meiner Seite warst.

Nach quälend langer Zeit hatte sich mein Kreislauf wieder eingefunden. Die Ärztin hatte zwischenzeitlich mit stolzgeschwellter Brust den nächsten Patienten aufgesucht.

Unter den betretenen Blicken der anderen Patienten verließ ich die Praxis, über deren Schwelle ich niemals wieder einen Fuß setzen werde.

Gedemütigt. Nie zuvor fühlte ich mich derart gedemütigt.

Deine M.

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